Stade mit anderen Augen sehen – Schüler*innen des Jahrgangs 10 auf den Spuren der Nazi-Diktatur
Friedlich liegt er da, der jüdische Friedhof in der Albert-Schweitzer-Straße in Stade, an einem kühlen Septembermorgen, begraben unter einem Teppich aus leichten Nebelschwaden und Raureif. Dieser Ort wird an diesem Tag der Treffpunkt einer Gruppe von 18 Schüler*innen der IGS Stade sein, die sich zusammen unter der Führung von Michael Quelle auf einen ganz besonderen Stadtrundgang begeben. Am Ende des Tages werden die Schüler*innen die Stadt Stade und den gleichnamigen Landkreis nicht nur aus anderen Augen gesehen haben, sondern auch Geschichten längst verstorbener Menschen gehört haben, deren Schicksal sie noch lange bewegen werden.
Die Zehntklässler*innen, die sich freiwillig zu dieser Veranstaltung gemeldet hatten, starteten mit dem Ziel mehr über reale Ereignisse erfahren, die sich zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in ihrer Heimat Stade ereignet hatten. Angebunden an den Unterricht im Fach Gesellschaftslehre beschäftigten sich die Schüler*innen schon seit einiger Zeit mit den Themen Diktatur Willkürherrschaft, Konzentrations- und Vernichtungslager sowie der Verfolgung und Diskriminierung von Regierungsgegnern, Juden, Sinti und Roma sowie anderen Minderheiten, die nicht in das Bild eines „arisierten“ deutschen Volkes passten. Neu für die Schüler*innen war, dass es gerade auch in der Stadt Stade sowie im gleichnamigen Landkreis zu einer großen Zahl an Opfern durch das so genannte „Euthanasie“-Programm und die oftmals unmenschliche Behandlung von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen kam.
Jüdischer Friedhof, Albert-Schweitzer-Straße
Der Rundgang begann am jüdischen Friedhof in Stade, der heute nur noch einen originalen Grabstein aufweisen kann. Nach Verfügung des damaligen Stader Bürgermeisters Dr. Dr. Karl Nörtemann wurde der seit 1826 bestehende Friedhof 1942 geräumt und dem Erdboden gleichgemacht. Die Grabsteine verschwanden bis auf einen spurlos. Heute erinnern noch zwei Gedenkstelen an die dort begrabenen Deutschen jüdischen Glaubens.
Polizeigebäude/ehemaliges Stader Krankenhaus, Teichstraße
Danach ging es weiter in Richtung Privatklinik Hancken. Von hier aus konnte man die Rückseite des heutigen Polizeigebäudes in der Teichstraße sehen. Dort befand sich zur Zeit der NS-Diktatur ein Krankenhaus mit anliegenden Holzbaracken, in denen ausschließlich Zwangsarbeiter*innen aus den von Deutschland besetzten Gebieten behandelt wurden. Von diesen Menschen, die wie Sklaven behandelt wurden, starben allein 284 im Landkreis Stade. Darunter waren mindestens 105 Kinder. Viele der Zwangsarbeiter waren nicht älter als 14 Jahre. Es wurden zudem mindestens 230 Zwangsabtreibungen an so genannten „fremdvölkischen“ Arbeiterinnen durchgeführt, denn – so erfuhren die Schüler*innen – insbesondere die Menschen aus Osteuropa galten für die Nazis als „minderwertige Rassen“, die keine Recht auf Leben besaßen. Einige „Stolpersteine“, die während des Rundgangs betrachtet werden konnten, erinnern heute noch an das Schicksal einiger Zwangsarbeiter*innen sowie an viele weitere Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In Stade liegen bereits 23 dieser kleinen Gedenksteine.
Bahnhof Stade und ehemaliges preußisches Regierungsgebäude, Bahnhofstraße
Weiter in Richtung Stader Bahnhof. Von dort aus wurden in den 30er und 40er Jahren die Zwangsarbeiter*innen auf die ortsansässigen Unternehmen und landwirtschaftlichen Betriebe verteilt und auf LKW oder Pferdefuhrwerke verladen. An der Bahnhofstraße, die zur Nazi-Herrschaft übrigens „Adolf-Hitler-Straße“ hieß, liegt heute noch das so genannte „Regierungsgebäude“. Hier war der vormalige Sitz des preußischen Regierungspräsidenten. Bereits 1933 wurde von der Verwaltung aus eigenem Bestreben die Hakenkreuzfahne auf dem Gebäude gehisst. Dies war zur damaligen Zeit für Verwaltungsgebäude nicht üblich. Von diesem Gebäude aus wurden Genehmigungen zum Abtransport von behinderten Menschen erteilt, obwohl auch hierfür keine gesetzliche Grundlage bestand. 1939 veröffentlichte Adolf Hitler eine persönliche Verfügung, in der er davon sprach, geistig und körperlich eingeschränkten Menschen zum „Gnadentod“ zu verhelfen.
Hohentorsbrücke am Bahnhof
An der beliebten Brücke vor dem Stader Bahnhof lernten die Schüler*innen, dass es im Jahr 1935 zu einem fürchterlichen Schauspiel kam. Der Pastor der Wilhadi-Kirche, Johann Gerhard Behrens (hatte die Nazis in den 30er Jahren öffentlich als „Gesandten des Teufels“ bezeichnet) wurde dort von SS-Männern aufgegriffen, verprügelt und gefesselt. Begleitet von einer SA-Kapelle, die nationalsozialistische Marschmusik spielte, wurde der Pastor mit einem Schild um den Hals („Ich bin ein Judenknecht“) durch Stade getrieben. Viele Stader Bürger wurden damals Zeugen dieses Tribunals und schändeten den Geistlichen aktiv durch Beschimpfungen und Wurfgeschosse.
Ehemaliger Süßwarenladen Julius Poppert, Bahnhofstraße 1
Am 1. April 1933 kam es bereits zum ersten Boykott jüdischer Geschäfte in Stade. Betroffen war unter anderem das beliebte Süßwarengeschäft Poppert, dessen Besitzer sich aufgrund der Repressionen zwei Jahre später selbst das Leben nahm.
Ehem. Bank Friedländer und Wertheim, Große Schmiedestraße
Weiter ging es für die Schüler*innen in Richtung des Parkplatzes Am Sande. Während der so genannten „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 eskalierte die Stimmung der SS- und SA-Männer. Zudem schlossen sich viele Stader Bürger den Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen in der Stadt an. Sowohl beim Bankhaus Friedlaender und Wertheim, als auch bei der Rechtsanwaltskanzlei Hertz wurden die Scheiben eingeschlagen und die Innenräume teilweise verwüstet. Die jüdischen Besitzer konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen.
(Ole Plorin)